1man an eine virtuelle Geschwindigkeit denken. – Wie schätzt man
2nun den Druck? Es ist doch nicht gleich viel, ob eine Kugel mit
3einer Kraft überhaupt, oder mit einem Hammer breit gedrückt
4wird. Hierüber entstand nun der Streit. Die Leibnitzianer (Leib-
5nitz, Muschenbroeck, s’Gravesande etc.) behaupteten: MC2,
6z.B. 5 · 32=45.
7Die Cartesianer hingegen (Cartesius, Mairan, Desaguliers,
8Newton und alle englischen Physiker) behaupteten MC, z.B.
95 · 3 = 15.
10Die Geschichte von diesem Streit findet sich in der neuesten
11Ausgabe von Käst|ners analytischer Mechanik.p. 575. Käst-385
12ner zählt 26 Schriften darüber auf, und Lichtenberg hat noch
13drey andere gefunden, von Bernoulli, Lambert und Kant. Die
14Schrift des letztern hierüber ist 1746 herausgekommen, und ist,
15soviel Lichtenberg weiß, Kants erste Schrift. Sie führt den Titel:
16Gedanken von der wahren Schätzung lebendiger Kräfte, Königs-
17berg 1746. Man sieht also, wie früh der Verfasser als Schriftsteller
18aufgetreten ist; denn er war damahls 22 Jahr alt, und mit welch
19einer schweren Materie er gleich angefangen hat.
20Der Streit ist von gar keiner Wichtigkeit, so heterogen auch
21anfangs die Meinungen zu seyn scheinen. Es sind große Männer
22auf beyden Seiten. Und daher kann man sich leicht denken, daß
23es | wieder, wie gewöhnlich, ein bloßer Wortstreit ist.386
24Leibnitzens Hauptgrund war, die Geschwindigkeit der Kör-
25per durch den Fall. Cartesius aber wendete dagegen ein: daß
26Leibnitz, z.B. die 3fache Geschwindigkeit 3 Mahl wirken lasse.
27– »Ihr laßt ja die Kräfte nicht in gleichen Zeiten wirken!« Und so
28läßt sich auch hiergegen nichts einwenden. – Sobald man also die
29Zeiten wegnimmt, so sind beyde Partheyen eins, wie Dalembert
30zuerst gezeigt hat. – Man durfte aber nie fürchten, daß daraus
31Irrungen entstehen könnten.
32Man stritt also nicht darüber, wie man den Druck messen muß,
33oder welches das Maaß der Kräfte sey, sondern darüber, was
34eigentlich Kraft ist. Es war also gerade so, als wenn Cartesius
35behauptete: Ein Mann könne in einer Stun|de mehr Steine tra-387
36gen, als ein Knabe; und Leibnitz dagegen eingewendet hätte:
37Nein, sondern er kann dann noch tragen, wenn der Knabe gar
38nicht mehr tragen kann. – Er kann vielleicht noch einmahl so
39lang aushalten. – – Es war also im eigentlichsten Verstande eine
40Logomachie. Jetzt ist die Sache ganz abgethan!